#NapoliLive: Caravaggio und die Poesie der Piazza

Neapel – Seismogramm einer Stadt

 

„Da soli non ci salviamo.

Senza la grazia non ci salviamo.“

 

 

In der dunklen Kirche des Pio Monte della Misericordia lausche ich dem kundigen Führer, der Caravaggios „Opere di misericordia” erläutert. Ich tauche ein in das frühe 17. Jahrhundert, in dem dieser Michelangelo Merisi die Sicht seiner Zeitgenossen auf die Welt revolutioniert. Der Mensch, ausgesetzt ins Dunkel der Welt, in der auf dichtem, samtigem Grund sich scharf Konturen abzeichnen: das Sein und die Zeit, der Raum und das Handeln.

 

In diese Nacht, die uns umgibt, fügt Caravaggio mit wenigen, suggestiven Flächen den Raum. Eine Gasse, eine Stadt – und welch eine Stadt! Es ist Napoli, bevölkert von Gesichtern, wie sie dir in diesen Tagen begegnen. Ihn, mit der Fackel, erblicktest du im Café ums Eck. Sie, die ihrem eingekerkerten Vater die Brust reicht, begegnete dir schon in der Sanità, mit ihrem wild entschlossenen, widerspenstigen Blick. Die Madonna, sahst du sie nicht mit zehn Freundinnen um den Kinderwagen stehen, den Bambino bewundernd, hütend, verherrlichend? Martin kellnert, Jakobus feilscht, und die Engel? Sie tauschen ihre Flügel mit den Motorini, die sie nachts durch die Sanità treiben.

„Opere di misericordia” ist ein Portrait Neapels – und zugleich ein Schlüssel, wie das Leben in dieser Stadt gelingen kann. Die Hungrigen und Durstigen sättigen, die Obdachlosen beherbergen, die Nackten kleiden, die Eingesperrten besuchen, die Toten bestatten – all das sind Taten jenes Herzens, dass Totò zur Schule sandte, und das nur ein Wort zu schreiben und buchstabieren lernte: „Ammore“. 

 

Alles, was mich in dieser Neopolitanischen Woche umtrieb, finde ich zu diesem auf berührende Weise aktuellen Bild verfestigt. Wir können nur dann überleben, wenn unser Tun von Liebe getragen ist – und wir auch zulassen, dass uns geholfen wird. Ob wir das, was uns zustößt, nun „Fügung“, „Glück“, „Karma“, „Gnade“ nennen: Auf den anderen sind wir angewiesen – und auf die Gnade, die uns unterstützt, die zu werden, die wir sind. 

 

„Da soli non ci salviamo. Senza la grazia non ci salviamo.“

 

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